Der Blick vom Weissenstein

 

Der Blick vom Weissenstein nimmt in Teil 6 das Thema #Lernen unter die Lupe. Geschlossene Schulen - Home Schooling: Der Ausnahmezustand in diesem Frühjahr hat besonders drastische Folgen für Schüler, Lehrpersonen und Eltern. Die SRF Arena vom 15. Mai hat sich unter dem Titel "Jugend ohne Zukunft" dem Thema gewidmet. Wir lassen heute mit Prof. Dr. Silja Rüedi und Dr. Florian Keller zwei Bildungsexperten zu Wort kommen: 

Lieber Florian, vielen Dank, dass Du Dich für dieses Gespräch zur Verfügung stellst. 

Wie geht es Dir?

Soweit so gut. Etwas müde vom Reden über Corona.

 

Wie hat sich Dein Alltag verändert?

Im April wollten wir im Auftrag der EDK schweizweit die Kompetenzen von mehr als 20'000 Oberstufenschülerinnen und -schüler testen. Zudem waren wir dabei, gemeinsam mit verschiedenen Fachhochschulen computerbasierte Tests für die 2. Primarschulklasse zu entwickeln. Die Projekte wurden bis auf weiteres sistiert, und mir wurde wieder einmal klar, wie systemirrelevant meine Arbeit ist.

 

Auch meine Tätigkeit als Dozent an der PH hat sich verändert. Ich sehe meine Studierenden nicht mehr. Wenn ich unterrichte, habe ich kein Gegenüber. Ich führe Selbstgespräche an meinem Computer und erkläre mir gewissermassen meine Power Point Folien selbst. Das fühlt sich eigenartig und irgendwie peinlich an, insbesondere wenn man das Ganze humoristisch etwas auflockern möchte.

 

Ich habe zugegebenermassen auch ein bisschen den Überblick verloren, wieviele meiner Studierenden noch mit dabei sind. Einige haben sich bereits abgemeldet, weil sie krank sind, zum Militär eingezogen wurden oder ihre Kinder betreuen müssen.

 

Privat bin ich als Staatsangestellter und mit einer hinreichend grossen Wohnung in einer privilegierten Situation. Aber als der Bundesrat fast täglich neue Verordnungen und Einschränkungen erlassen hat, hat es mir schon kurz den Boden unter den Füssen weggezogen. Ich fühle mich entmündigt, und ich vermisse die freundschaftlichen Kontakte, das gemeinsame Schwitzen im Boxtraining, die gemütlichen Abendessen im Freien, ganz allgemein Anregungen und Erlebnisse, das Lebendige halt.

 

Als Wissenschaftler ärgere ich mich, wie unhinterfragt Zahlen und Statistiken medial verbreitet und interpretiert werden, und über jene Wissenschaftler, die mit selbstgefälliger Gewissheit die Ergebnisse von Prognosemodellen verkaufen und daraus scheinbar objektiv politische Handlungszwänge ableiten.

 

Wie hast Du seit Anfang März Dein engeres Umfeld erlebt. Hat sich die Qualität dieser Beziehungen verändert?

Am Anfang war es eine verrückte Zeit. Da habe ich viel mit meinen Freunden telefoniert, diskutiert und Pläne geschmiedet. Mit der Zeit hat sich dieser Aktionismus aber gelegt. Ich treffe ab und zu einige Freunde, meistens draussen zum Bier im Park. Für mich wirkt es aber nach wie vor einigermassen grotesk, wie plötzlich alle so weit auseinander stehen und sich gegenseitig immer wieder fragen, ob man noch gesund sei.

 

Anders in der Familie. Hier sind wir zusammengerückt räumlich, aber auch emotional. Wir verbringen definitiv mehr Zeit zusammen und das zum Glück konfliktfrei. Als Familienmensch geniesse ich das. Es ist fast ein bisschen eine geschenkte Zusatzzeit, eine Ehrenrunde der Kleinfamilie. So koche ich uns jeden Abend etwas Feines, und wir reden über Corona. Zu Ostern haben wir dann auch Desinfektionsmittel statt Schoggihasen versteckt.

 

Was sind aus Deiner Sicht die nachhaltigsten Konsequenzen von Corona?

Grundsätzlich bin ich für die Zukunft zuversichtlicher als auch schon. Ich vermute aber, dass die verstärkte Angst vor dem Fremden, dem Unhygienischen, dem Risiko bleiben wird. Dadurch werden wohl das Bedürfnis nach der Kontrollierbarkeit aller Lebensbereiche sowie das politische Primat der Gesundheit weiter zunehmen.

 

Bildungspolitisch wird wohl die Digitalisierung der Schule weiter forciert werden. Das ist für uns Bildungsforscher grundsätzlich mal interessant, denn mit der Digitalisierung wird - quasi als deren Abfallprodukt - eine gigantische Menge an Daten generiert,  die neue Möglichkeiten der Analyse eröffnen. Wozu diese Möglichkeiten genutzt werden sollen, ist mir im Moment noch nicht so klar. Klar scheint mir jedoch, dass Begriffe und Methoden wie Learning Analytics, Big Data und Machine Learning die Bildungsforschung der Zukunft massgeblich prägen werden.

 

Einen längerfristigen Effekt der Schulschliessungen auf die Leistungen oder den Kompetenzerwerb der Schülerinnen und Schüler erwarte ich nicht. Solange die Schulen wirklich nur etwa zwei Monate geschlossen bleiben, werden die Schülerinnen und Schüler den verpassten Stoff schnell wieder aufgeholt haben. Die bestehenden Bildungsungleichheiten aufgrund der familiären Ressourcen werden jedoch mit zunehmender Dauer des Home-Schoolings tendenziell verschärft.

 

Gibt es für Dich auch positive Aspekte der Krise?

Ich persönlich kann mich mit dieser "Jeder-Scheiss-ist-eine-Chance-Haltung" nicht so anfreunden. Selbstverständlich ist nie alles nur schlecht. Aber ob sich aufgrund dieser Corona-Pandemie etwas zum Positiven verändert, kann man wohl erst im Nachhinein beurteilen.

 

Welches sind die Lehren, die wir aus der Corona-Krise ziehen sollten?

Für abschliessende Lehren scheint mir der Zeitpunkt noch etwas verfrüht. Interessant ist es aber zu beobachten, wie wir als Gesellschaft mit der Corona-Krise umgehen. Beispielsweise wie schnell und bereitwillig wir - nach entsprechender Angstkommunikation - auf viele elementare Grundrechte verzichten und damit auch wie fragil vermeintliche Gewissheiten sind.

 

Für die Schule erhoffe ich mir, dass neben dem Ruf nach Digitalisierung, der Stellenwert physischer Interaktionen wieder an Anerkennung gewinnt. Schön wäre auch, wenn die erhöhte Wertschätzung, die Schule und Kinderbetreuung zurzeit erfahren, in die Nach-Corona-Zeit gerettet werden könnte. 

 

Wie lautet Dein Appell oder Leitsatz an die Öffentlichkeit?

Bleib gesund, bleib gelassen, bleib optimistisch.

 

Zum Autor:

Dr. Florian Keller (48) studierte Soziologie und Volkswirtschaft an der Uni Zürich. Er arbeitete als Primarlehrer, Krankenpfleger, führte ein Catering-Unternehmen und ist seit rund 20 Jahren als empirischer Bildungsforscher tätig. Zurzeit leitet er die Stelle "Qualitätsprozesse Leistungsmessung" bei der Aufgabendatenbank der EDK in Aarau. Zudem ist er Dozent für Forschungsmethodik an der Pädagogischen Hochshule Bern.

Liebe Silja, vielen Dank, dass Du Dich für dieses Gespräch zur Verfügung stellst.

Wie geht es Dir?

Den Umständen entsprechend gut.

 

Wie hat sich Dein Alltag verändert?

Das Einschneidendste war wohl der bewusste Kontrollverlust, den ich vor allem in meinem Umfeld wahrgenommen habe. Der wirkte im ersten Moment entweder befreiend oder beängstigend. Gleichzeitig war für alle klar, wo nun die Prioritäten gesetzt werden müssen. Diese Fokussierung bewirkte, wenn auch nur vorübergehend, eine Vereinfachung. Mich interessieren jetzt vor allem die Auswirkungen dieser Monate im globalen Ausnahmezustand. Davor habe ich Respekt. 

 

Wie hast Du seit Anfang März Dein engeres Umfeld erlebt? Hat sich die Qualität dieser Beziehungen verändert?

Ich erlebe Corona als Verstärker. Was vor Corona gut war, wird noch besser. Deutlich zeigt sich: Wer kooperieren kann, ist besser dran. Und was schon vor Corona nicht funktionierte, tut es jetzt erst recht nicht.

 

Was sind aus Deiner Sicht die nachhaltigsten Konsequenzen von Corona?

Ich schaue genau hin und denke nach. Die Zeit nach Corona wird geprägt sein von den neuen Erfahrungen und Auswirkungen, die jetzt noch schwer abschätzbar sind. Sicher überlege ich mir für "post-corona" ein paar Dinge grundsätzlich.

 

Gibt es für Dich auch positive Aspekt der Krise?

Wenig wird sein wie zuvor. Die soziale Welt wird eine andere sein nach Corona. Zum einen werden die wirtschaftlichen Auswirkungen global und lokal massive soziale und gesellschaftliche Auswirkungen haben. Ich gehe von einem ziemlichen Durcheinander aus. Zum anderen haben wir erfahren, was angesichts einer Pandemie sozusagen über Nacht politisch möglich wird. Das wird die Zivilgesellschaft hoffentlich so rasch nicht vergessen. Ich wünsche mir, dass vor dem Hintergrund dieser Erfahrung gewisse Paradigmen und Handlungslogiken hinterfragt werden können.

 

Welches sind die Lehren, die wir aus der Corona-Krise ziehen sollten?

Dieser Krise kann ich aus einer vergleichsweise privilegierten Situation heraus in mancher Hinsicht Positives abgewinnen. Auf mein berufliches Tätigkeitsfeld bezogen hoffe ich, dass die grosse Bedeutung der Bildungsinstitutionen - von der Volksschule bis zur Universtität - als Orte des Lernens und zusammen Denkens und Handelns in der realen Begegnung noch stärker bewusst geworden ist. Lernen und Entwickeln ist ein sozialer Prozess, zu dem ja weit mehr gehört als der Austausch von körperlosen Informationen. Gleichzeitig haben wir mit dem digital unterstützten Lernen einen grossen Schritt nach vorne getan. Die meisten wurden brutal ins Wasser geworfen und es zeigt sich, wer schwimmen kann. Die einen werden das Wasser nach Corona scheuen und die anderen sind auf den Geschmack gekommen.

 

Wie lautet Dein Appell oder Leitsatz an die Öffentlichkeit?

Wir sollten nach Corona Prioritäten bewusst neu setzen und dabei herausfinden, was für uns persönlich und für unsere Umgebung eigentlich von Bedeutung ist. Dann sollten wir versuchen, im Privaten und im Öffentlichen danach zu handeln.

 

Zur Autorin:

Prof. Dr. Silja Rüedi   - ist seit Juli 2018 Prorektorin Ausbildung sowie stellvertretende Rektorin der Pädagogischen Hochschule Zürich

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