Der Blick vom Weissenstein

 

Im 3. Teil unserer "Mini-Serie" schildern zwei Persönlichkeiten aus der Welt des Wortes ihre Eindrücke, Erlebnisse und Erfahrungen in den Wochen des Ausnahmezustandes.

 

Die Live-Literatin Judith Stadlin berichtet über die Schwierigkeiten bei der Lancierung ihres neusten Werks "Häschtääg zunderobsi" und Thomas Meyer, der literarische Agent der jüdischen Weltverschwörung, kann der Corona-Pandemie allerhand Positives abgewinnen.

Liebe Judith, besten Dank, dass Du Dich für dieses Interview zur Verfügung stellst.

Wie geht es Dir?

Es geht mir den Umständen entsprechend gut. Ich fühle mich gesund, kann momentan finanziell noch überleben und darf ja auch aus dem Haus gehen. Verglichen mit den Menschen in Spanien und Italien, die kaum einen "unbegründeten" Schritt ins Freie machen dürfen, ist das relativ wunderbar. Dank einer Dachterrasse und einem Aussensitzplatz kann ich an die frische Luft, selbst beim Zuhausebleiben.

 

Wie hat sich Dein Alltag verändert?

Im Hauptberuf bin ich Schauspielerin, Live-Literatin und Schriftstellerin, stehe also sehr oft auf der Bühne. Bloss sind momentan Bühnenauftritte nicht möglich. Mein beruflicher Alltag  hat sich ganz wesentlich verändert, alle meine Bühnenauftritte sind seit Mitte März abgesagt worden, inkl. meiner für die weiteren Veranstaltungen sehr wichtigen Buchvernissage.

 

Das bedeutet für mich, die ich mit Auftritten meinen Lebensunterhalt bestreite, dass ich seit Mitte März quasi kein Einkommen mehr habe. Mein Partner und ich haben darum kreativ ein neues Krisenformat auf die Bühne gebracht: Die "Corona-Socialdistancing-Soloshow", bei der wir maximal fünf Zuschauern*innen eine exklusive Soloshow bieten. Dies zum üblichen Stundentarif eines Zuger Anwalts. Als Überlebenshilfe! Mal sehen, ob es klappt.

 

Mein künstlerischer beruflicher Alltag hat sich hingegen insofern nicht merklich verändert, als ich meine Schreib-, Organisations- und Kulturmanagementarbeit als selbständige Bühnenkünstlerin, Buch- und Theaterautorin schon immer zuhause, im Home Office erledigt habe.

 

Wie hast Du seit Anfang März Dein engeres Umfeld erlebt? Hat sich die Qualität dieser Beziehungen verändert?

Persönliches:

Das Schlimmste war, dass ich meine demente Mutter, die im Heim weilte, zu lange Zeit nicht besuchen durfte, ohne dass sie wohl begriffen hat, warum. Erst in ihrer letzten Sterbephase durfte ich wieder bei ihr vorbeigehen. Nun ist sie leider kürzlich verstorben (aber nicht an Covid-19) und die Abdankung durfte auch nur im engsten Kreise stattfinden. Das war schon sehr eigenartig und für Freunde und Verwandte traurig, dass sie nicht teilnehmen konnten.

 

Schade ist auch, dass ich meine wichtigen Beziehungen zu Freund*innen und Familie nicht unkompliziert und live pflegen kann, spontane Besuche der Kinder, Umarmungen, Beizenbesuche etc. liegen nicht drin, und das ist sozial schon einschneidend.

 

Berufliches:

Beruflich fallen natürlich die Publikumsbegegnungen weg, das ist äusserst ungewohnt. Mein Publikum bestellt zum Glück ab und zu Bücher direkt bei mir - ein kleiner Lichtblick. Aber natürlich ist es trotzdem kein Vergleich zum Buchverkauf im Buchhandel und bei meinen Action-Lesungen.

 

Was sind aus Deiner Sicht die nachhaltigsten Konsequenzen von Corona?

Riesige negative nachhaltige Konsequenzen sind sicher diejenigen finanzieller Art. Ich denke, die Welt steuert auf Herausforderungen zu, die zur Zeit noch nicht überschaubar sind. Auch in psychosozialer Hinsicht werden mit der Zeit ganz gravierende Konsequenzen zu spüren sein. In letzter Zeit hatten die Virologen und die Epidemiologen viel mehr zu sagen als die Psychologen, Soziologen und Psychiater. Ängste, persönliche Krisen, Vereinsamung, häusliche Gewalt (dazu die Frage der Sprachkünstlerin: War je ein Haus gewalttätig?), auch Suizide haben bestimmt massiv zugenommen. Dies alles wird eine grosse gesellschaftliche Herausforderung darstellen.

 

Zu den positiven Konsequenzen: Ich hoffe, dass es überhaupt ein paar positive nachhaltige Konsequenzen haben wird, bin mir dessen aber nicht sicher.

 

Der Verzicht auf überflüssigen Konsum wäre wünschenswert, jetzt, da viele gemerkt haben dürften, dass es möglich ist, sich einzuschränken.

 

Die allfällige blinde Verherrlichung der Digitalisierung wurde durch den Lockdown und das Homeschooling garantiert relativiert. Dass dei Digitalisierung viele Vorteile, aber auch viele Grenzen hat, dürfte nun einigen klar geworden sein.

 

Gibt es für Dich auch positive Aspekt der Krise?

Berufliche eher nicht. Privat siehe oben und ja, toll wäre es, wenn in Zukunft vermehrt Videokonferenzen an die Stelle vom Herumfliegen für Sitzungen treten würden. Wenn die Krise wenigstens aufs Klima einen positiven Effekt hätte, wäre das immerhin ein Vorteil von Corona. 

 

Welches sind die Lehren, die wir aus der Corona-Krise ziehen sollten?

Ich hoffe, dass sich nach der Coronakrise wieder die Freundlichkeit und die ANSTANDSregeln durchsetzen anstelle des Kopf-Einziehens und Blick-Abwendens bei Begegnungen. Kurz: Ich hoffe sehr, dass die ANSTANDSregeln wieder an die Stelle der ABSTANDSregeln treten. Weil man den direkten, nahen Kontakt zu den Mitmenschen wieder zu schätzen weiss.

Und unsere demokratischen Rechte: Zu denen müssen wir genauso Sorge tragen wie zur Gesundheit!

 

Wie lautet Dein Appell oder Leitsatz an die Öffentlichkeit?

Ich würde rufen:

Bescheidener leben!

Ressourcen schonen! (Denn dies ist ja durchaus möglich, wie wir momentan sehen)

Den Datenschutz und die demokratischen Grundsätze und Möglichkeiten bei- und im Auge behalten! (Trotz Gesundheitsprävention via Apps und Datenfreigabe)

Die Kriterien für eine "Systemrelevanz" neu überdenken! (Blumenläden statt Tattoostudios, Buchläden statt Kosmetiksalons)

Viel mehr ins Theater und ins Konzert gehen, besonders an kleinere Veranstaltungen. Überhaupt viel Kultur mit anderen Menschen geniessen!

 

Zur Autorin:

Judith Stadlin, geboren und wohnhaft in Zug, ist Schauspielerin, Tanzpädagogin, Theater- und Buchautorin. Ausgebildet an der Mimenschule Ilg am Schauspielatelier in Zürich und in Wien, Rom und Paris. Ausserdem Lic. Phil 1 (Germanistin und Musikwissenschafterin).

Fachfrau für Bühne, Theater, Sprache, Inszenierung und Tanz und Verfasserin von unzähligen Theaterstücken, Hörspielen, Bühnentexten und Choreografien. Sie führ auch Regie und schreibt fürs Radio, ist Gründerin und Leiterin der Komikerinnentruppe LES SERWÖS NERWÖS und auch solo als Live-Literatin unterwegs, seit 2005 Teil des Literatur- und Kabarettduos "Satz&Pfeffer".

Lieber Thomas, besten Dank, dass Du Dich für dieses Interview zur Verfügung stellst. 

Wie geht es Dir?

Danke, sehr gut. Mir tut der Lockdown gut. Und ich finde, uns allen. Natürlich hat er seinen Preis, aber meiner Meinung nach war es dringend nötig, uns auszubremsen.

 

Wie hat sich Dein Alltag verändert?

Ich habe schon vorher viel zuhause gearbeitet. In dieser Hinsicht ist alles wie vorher. Aber ich trete nicht mehr auf. Das macht mein Leben, das vorher sehr intensiv war, geruhsam. Aber auch mein Konto ist nicht so voll wie auch schon.

 

Wie hast Du seit Anfang März Dein engeres Umfeld erlebt. Hat sich die Qualität dieser Beziehungen verändert?

Ich kaufe seit Wochen für meine Eltern ein und habe viel mehr Kontakt mit ihnen. Wir sind uns näher. Auch die Beziehung zur Mutter meines Sohnes ist besser denn je. Ich sehe aber auch viel Angst. Die Unsicherheit ist gross. Wir sind sehr verletzlich. Aber auch das finde ich gut.

 

Was sind aus Deiner Sicht die nachhaltigsten Konsequenzen von Corona?

Ich konnte Schwierigkeiten schon immer konstruktiv begegnen. Es ist auch jetzt so. Ich frage mich, was ich für mich, meinen Sohn, meine Freundin, deren Tocher und meine Familie tun kann. Was ich völlig bescheuert finde: Dem Medizinpersonal auf dem Balkon applaudieren. Wer hat davon was? Das ist lächerlich.

 

Gibt es für Dich auch positive Aspekte der Krise?

Ich war schon immer der Ansicht, dass unser Wirtschaftssystem völlig aufgebläht ist. Wo es früher einen Werbeverantwortlichen gab, ringt heute ein ganzes Team um eine Entscheidung. Oder eben rang - ich denke, es wird eine umfassende Gesundschrumpfung stattfinden. Natürlich bange ich um meinen Verlag. Er verkauft nur noch einen Viertel der Bücher. Das ist katastrophal. Aber wie gesagt: So, wie wir uns aufgeführt haben, konnte es nicht weitergehen. Die Hektik, die Fliegerei, der Überkonsum, die Beziehungslosigkeit - in meinen Augen ist Corona eine brillante Antwort der Natur auf eine ganze Reihe von modernen Fragen .

 

Welches sind die Lehren, die wir aus der Corona-Krise ziehen sollten?

Ich muss gestehen, dass ich Corona fast nur Positives abgewinne. Ich sehe die wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die auf uns zukommen, aber die waren letztlich potentiell ohnehin schon vorhanden, und wie gesagt: So konnte es nicht weitergehen. Es musste sich etwas ändern, und auf unsere Vernunft und unser Masshalten konnte man sich offensichtlich nicht verlassen.

 

Wie lautet Dein Appell oder Leitsatz an die Öffentlichkeit?

Man sieht nun, was wichtig ist: die Gesundheit, die Beziehungen, die Familie, die Natur, ein gesunder Staat, soziale Gerechtigkeit. Und man sieht nun, was unwichtig ist: Konsum, Reisen, Profitdenken. Man sieht nun auch, was falsch ist: Ausbeutung von Mensch und Natur.

 

Nutzen Sie künftig diese Einsichten in Ihrem Wahlverhalten, Ihrem Stimmverhalten, Ihrem Beziehungsverhalten, überhaupt Ihrem Verhalten!

 

Zum Autor:

Thomas Meyer, geboren 1974 in Zürich, arbeitete nach einem abgebrochenen Jura-Studium als Texter in Werbeagenturen und als Reporter auf Redaktionen. 2007 machte er sich selbständig. Sein Roman "Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse" wurde zu einem Best- und Longseller, die Verfilmung "Wolkenbruch" (2018) war ein grosser Kinoerfolg. Thomas Meyer lebt in Zürich.

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